Spuren des Kommunismus und Architektur der Sozialistischen Moderne in Kalkutta.
Kalkutta war über viele Jahrzehnte eine Hochburg des Kommunismus.
Von 1977 bis 2011 war die Stadt sogar kommunistisch regiert.
Nirgendwo auf der Erde gab es eine derart lange, durch regelmäßig freie Wahlen legitimierte marxistische Herrschaft.
Der kommunistische Stern ist in Kalkutta auf politischer Ebene inzwischen vollständig untergegangen. Doch Spuren dieser Zeit sind überall zu finden.
Der Bau einer Niederlassung der Reserve Bank of India mit Anklängen zum Baustil der Sozialistischen Moderne gibt ein Beispiel dafür.
Nicht selten ist zu erleben, dass Menschen in der Stadt gegenüber der ehemaligen Sowjetunion positiv eingestellt sind.
Unvergessen ist die Tatsache, dass vor allem Sowjets dafür warben, die Folgen des britischen Kolonialismus zu überwinden.
So setzten sie sich dafür ein, Englisch durch Hindi als Hauptsprache zu ersetzten, was schließlich auch gelang.
Erinnert wird auch, dass die Sowjetunion Indien entgegen westlichem Abraten zum Aufbau einer umfangreichen Schwerindustrie ermutigte.
In der Folge nahm das Land bei der Industrialisierung Indiens eine wichtige Rolle ein.
Vor diesem Hintergrund entstanden viele Bauwerke mit Prägung durch die Sozialistische Moderne.
In den 1970er/80er Jahren wurde auch Kalkuttas U-Bahn mit Hilfe von Ingenieuren aus der Sowjetunion und der DDR gebaut.
Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits ein umfangreicher Kulturtransfer zwischen Indien und Russland stattgefunden.
Es kam zum Austausch von Studenten zwischen beiden Nationen.
Indische Intellektuelle publizierten vielbeachtete Artikel in sowjetischen Zeitungen und Bücher indischer Autoren wurden in russischer Sprache veröffentlicht.
Der Hindi-Film wurden in Russland populär. Im Bereich des Kinos kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Indien und der UdSSR.
Ingenieure und Architekten aus sozialistischen Ländern wurden in Kalkutta tätig.
Im Gegensatz zu den spätstalinistischen Bauwerken im Ostblock wirkt Kalkuttas kommunistisch geprägte Architektur nur selten grau, abweisend oder trostlos.
Oft erschließt sich ihr sozialistischer Baustil erst, wenn man Abstand von einer weißen, eurozentrischen Wahrnehmung nimmt.
Die Architektur der sozialistischen Moderne ist normalerweise in einer Umgebung mit eher geringer Pluralität beheimatet.
Zum Beispiel in der ehemaligen DDR oder den östlichen Nachbarländern.
Dort ist ihr Charakter auf den ersten Blick sichtbar.
Kalkutta hingegen ist eine äußerst expressive Stadt.
In ihrem hyperintensiven, extrem diversen Wesen kommt der typische Ausdruck des sozialistischen Baustils nur sehr eingeschränkt zum Tragen.
Zudem sind viele dieser Bauten mit indischen Signets durchsetzt, sowie in Englisch und Hindi beschriftet.
Oft sind sie mehrfarbig gestaltet und zu ihren Fundamenten wächst üppiges Grün.
Während der kommunistischen Periode haben viele Aspekte sowjetischer Lebensart in der Stadt Einzug gehalten.
So wuchs die Jugend dieser Zeit mit russischen Märchen und Kinderbüchern auf.
Väterchen Frost und die Hexe Baba Jaga waren in Kalkutta ebenso präsent wie in der ehemaligen DDR.
Erwachsene Einwohner Kalkuttas griffen zu Büchern von Tschechow oder Maxim Gorki.
Doch auch Schriftsteller aus anderen Ländern des Ostblocks wurden gelesen.
In Buchläden, privaten Haushalten oder Bibliotheken finden sich zum Beispiel Werke von Christa Wolf, Sarah Kirsch oder des polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem.
Eine besondere Rolle kommt dem Dramatiker Bertolt Brecht zu.
Werke von ihm werden seit Jahrzehnten in der Stadt aufgeführt und sein Konterfei ist bis heute auf Plakaten zu Theater- oder Kulturabenden in Kalkutta zu sehen.
Mit dem Kommunismus hielt auch das Schachspiel in Kalkutta Einzug.
Es ist bis heute in vielen Gesellschaftsschichten äußerst populär.
So existieren zahlreiche Schachvereinen und oft finden Meisterschaften statt.
Auch "Street-Chess" ist weit verbreitet, meist kommen dafür generationsübergreifende Menschengruppen zusammen.

Hinter dieser Hochstraße stehen zweit typische Vertreter des sozialistischen Baustils in Kalkuttas Prägung. Sie wurden in den 1970er/80er Jahren errichtet.
Die Front des Metro Rail Gebäudes ist mit einem großen Bronzerelief gestaltet.
Das typisch sozialistische Stilmittel wirkt aber hier weniger monumental und statt Marx und Engels ist Gandhi als Hauptperson dargestellt.
Daneben steht das Chatterjee International Center mit 24 Stockwerken.
Bei seinem Bau hoffte man, dass das Gebäude mit einer Höhe von 91 Metern zu einer Ikone des modernen globalen Sozialismus avancieren würde.
Doch heute gibt es in Kalkutta viele Bauten, die wesentlich höher sind.
Hinter der Skyline der 1980er Jahre mit Höhen von 50 bis 100 Meter sind derzeit viele Wolkenkratzer in Vorbereitung, von denen die ersten schon fertig gestellt sind.
Einige sind mehr als doppelt so hoch, und der derzeit höchstes Gebäude Kalkuttas hat gar 65 Etagen.

Der Fuß des Chatterjee International Center ist mosaikhaft gestaltet.
Er weckt Assoziationen zu dem in der ehemaligen DDR kultivierten Formstein-System nach Karl Heinz Adler und Friedrich Kracht oder den Design-Ideen von Hubert Schiefelbein.
Die Fliesenbilder an dem Gebäude sind vollkommen mit einer typisch indischen Form- und Zeichensprache durchsetzt.
Ebenso sind in Kalkutta Denkmäler zu finden, die mit der Zeit des Kommunismus in Zusammenhang stehen.
So gibt es, ähnlich wie in osteuropäischen Städten, einen Lenin-Park mit großer Lenin-Statue.
Doch auch im Kleinen sind Spuren der kommunistischen Zeit zu sehen.
Vielerorts finden sich marxistische Büsten, oft sind sie mit roten Fahnen geschmückt.
In einigen Gegenden Kalkuttas ist das Hammer-und-Sichel-Symbol an Wände gemalt.
So zeigt sich, dass es in der Stadt Kräfte gibt, die sich für ein Wiedererstarken des Kommunismus einsetzen.
Sozialistische Straßennamen sind erhalten geblieben.
Eine Karl Marx Straße gibt es ebenso wie eine Lenin Road.
Auch finden sich viele kleine Zeichen, die auf die marxistische Ära verweisen.
Zum Beispiel Hauseingänge, Zaun-Elemente oder Fenster- und Türgitter im Ostblock-Stil.
Die russische Cuisine wurde in den äußerst vielfältigen Kanon der bengalischen Küche integriert. So sind zum Beispiel Pelmeni verbreitet.
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