Kalkutta- Menschen, Stadtbilder und Geschichte.
Wir sind in Kalkutta unterwegs, durchstreifen die Gegend um Dalhousie Square.
Dalhousie Square ist eines der wenigen umfangreich erhaltenen Kolonialzentren Asiens und vermittelt vielerorts europäische Eindrücke.
Neben alten britischen Großbauten findet sich eine architektonische Fülle aus vielen weiteren Kulturen.
Dies ist eine der Gegenden Kalkuttas, in denen sich die typischen Bilder großer Metropolen eröffnen: breite Straßen und vielen Taxis.
Kalkutta hat oft den Gestus des Imperialen. Auch in diesem Stadtviertel wird er flagrant.
Große, meist einen ganzen Straßenblock umfassende Gebäude bestimmen die Stadtbilder, viele sind in gepflegtem Zustand.

Meist liegen die Gebäude hinter großen Bäumen.
Vor Jahren stellte die Stadtverwaltung fest, dass Kalkutta zu wenig Vegetation hat und beschloss großflächige Begrünungen.
Wegen Platzmangels beschritt man ungewöhnliche Wege und entschied, dichtes Grün sei wichtiger, als die Ansicht architektonischer Werke.
So wurden Bäume direkt vor die Gebäuden gepflanzt.
Architekturfreunde äußern sich kritisch und sind der Ansicht, Kalkutta hätte mehr Tourismus, wenn die vielen prächtigen Bauwerke endlich Aufmerksamkeit erhielten.
Doch dafür wäre freie Sicht erforderlich.
Nicht wenige Gebäude sind teilweise ungenutzt oder stehen komplett leer und ihre Zukunft scheint ungewiss.
Beispiel dafür gibt das Royal Insurance Building. Die Inschrift auf der Front scheint von Österreichs Jugendstil geprägt, doch das Gebäude wird nicht in vollem Umfang genutzt.
Trotz der Tatsache, dass Kalkutta zu den Städten mit der weltweit höchsten Bevölkerungsdichte zählt, gibt es zahlreiche leerstehende Gebäude und "Lost Places" lassen sich in sich in allen Vierteln finden.
Wir erreichen eine ehemalige Niederlassung der Standard Chartered Bank.
Der mondäne historische Großbau ist ein typischer Vertreter teilweise oder komplett leerstehender Gebäudekomplexe Kalkuttas.
Vor dem Gebäude steht ein verlassener alter Krankenwagen.
Dahinter haben sich Menschen auf dem Gehweg ein Obdach geschaffen.
Solche Bilder Kalkuttas wurden durch Mutter Teresa bereits vor Jahrzehnten weltweit bekannt, inzwischen spielt sich Ähnliches auch in westlichen Metropolen ab.
Mutter Teresa stammt aus großbürgerlichen europäischen Verhältnissen.
Als sie sich für ein Leben als einfache Nonne entschied und Ende der 1920er Jahre nach Kalkutta migrierte, hatte sie kaum den Plan, den wichtigsten Personen des 20. Jahrhunderts anzugehören.
Fast zwei Jahrzehnte arbeitete sie vor allem als Lehrerin in der Stadt, ehe sie den Orden der Loretoschwestern verließ.
Fortan lebte sie allein in der Stadt, half Kranken und Sterbenden.
Bald begleiteten frühere Schülerinnen ihre Arbeit, so bemühte sie sich um einen eigenen Orden. 1950 gelang ihr die Gründung der “Missionarinnen der Nächstenliebe" und ihre Schwesternschaft wuchs schnell.
Der Vatikan erkannte in dem Orden einen Schlüssel, um die Position der Kirche in der Öffentlichkeit zu stärken und förderte seine Bekanntheit.
Auch sie selbst erwies sich als Virtuosin im Umgang mit Presse und TV und wurde zur vielbeachteten Frau.
Bald ging die tägliche Pflege Sterbender mit internationaler Publicity und Preisverleihungen Hand in Hand. Als Mutter Teresa avancierte sie zum weltweiten Star.
Nach Erhalt des Friedensnobelpreises standen die Nummern der höchsten Staatsoberhäupter in ihrem Telefonbuch.
Wenn sie Unterstützung für Hilfsarbeit brauchte, konnte sie etwa US- Präsident Ronald Reagen einfach anrufen.
Im Blitzlichtgewitter globaler Presse traf sie Prinzessin Diana oder den Papst.
Als sie starb, hatte sie viele Menschen inspiriert, ihrem Weg als Nothelferin zu folgen, und Niederlassungen des Ordens auf dem ganzen Planeten gegründet.
Doch auch Kritik wurde laut und sie geriet in ein negatives Licht.
Mangelnde Hygiene in ihren Einrichtungen wurde unterstellt. Sterbenden hätte sie medizinische Behandlung vorenthalten.
Sie sei eine narzisstische Fundamentalistin gewesen, die das Leid Kranker religiös ästhetisiert hätte und einen bizarren Kult des Todes pflegte.
Dabei hätte sie ihren Ruhm als ethische Instanz bewusst forciert und sich als Ikone des Guten inszeniert.
Nur ein Bruchteil von Millionen-Spenden wäre in Hilfsarbeit geflossen.
Doch ihr Grab in Kalkutta hat sich zum globalen Wallfahrtsort individuell reisender Pilger entwickelt und ist besonders zu Anlässen dicht umlagert.
Kommt man dort mit Besuchern ins Gespräch, werden die Vorwürfe gegen sie meist vor dem Hintergrund ihrer antikommunistischen Haltung sowie ihrer entschlossenen Gegnerschaft zur Abtreibung betrachtet.
Berichte in westlichen Medien sind aktuell wieder positiver geprägt, nun wird vor allem ihre Rolle als bedeutende Frau der Zeitgeschichte betont.
Unter Kalkuttas Einwohnerschaft wird sie differenziert betrachtet.
Sie hätte der Stadt den Ruf eines Armenhauses eingebracht, aber auch viel Hilfe geleistet und sei, ähnlich wie Gandhi eine Inspiration für Menschen in allen Erdteilen.
Eine zentrale Rolle in der öffentlichen Erinnerungskultur Kalkuttas kommt ihr nicht zu.
Denn der Stadt entstammen fünf weitere Nobelpreisträger, zudem hat sie viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, die jedoch im Westen kaum beachtet werden.

Ein Beispiel gibt Swami Vivekananda.
Als er 1893 vor dem Weltkongress der Religionen in klaren Worten die “Idee der Toleranz” formulierte, war er dem westlichen Zeitgeist um zwei Weltkriege und viele Dekaden voraus.
Die von ihm ins Leben gerufene Ramakrishna-Mission ist bis heute wegweisend im modernen karitativen Bereich Indiens und gelangte ohne Flankierung durch Massenmedien auf vielen weiteren Ebenen zu weltweiter Wirkung.
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